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    Hugo Feuz

«Grab oder Gefängnis»
oder «Darf ich mich mit dem Sackmesser schützen?»

Blog by Hugo Feuz, Rechtsanwalt Accordis.ch Bern

Diese Frage hat angesichts sich häufender Angriffe auf zufällige Passanten – zur falschen Zeit am falschen Ort – nicht zuletzt durch Horrorclowns eine enorme Bedeutung bei der verunsicherten Bevölkerung erlangt. Dies nicht zuletzt deshalb, weil diese verunsicherte Bevölkerung aus den Medien erlebt, dass die Polizei gegen den Angegriffenen wegen schwerer Körperverletzung oder gar vorsätzlicher Tötung ermittelt.

Schluss mit Lustig. Vorbei sind die Zeiten, in denen unsere Grossmütter warnten, ja niemanden anzugreifen: „Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um“, und: „Du greifst niemanden an. Wirst Du aber angegriffen, kannst Du Dich mit allem wehren, was Du hast“. Diese Weisheiten gelten heute nicht mehr. Die Gerichte muten dem Angegriffenen im Moment des Angriffs, im Moment der Angst, im Moment der Überraschung eine äusserst differenzierte Abwägung der Wahl der Abwehrmittel zu, genau so wie sie das Gericht später vornimmt. Schützt sich die angegriffene Person mit einem Taschenmesser, muss sie dies der angreifenden Person vorher mitteilen – wie wenn im Tennis neue Bälle ins Spiel kommen. Sonst drohen mehr als 10 Jahre Gefängnis, wie ein Entscheid des Regionalgerichts Biel im Fall Q (vgl. unten) zeigte.

Erschreckende Zwischenbilanz:

Man schützt sich nicht mit einem Taschenmesser. Wer angegriffen wird, muss sich mehr um die Unversehrtheit des/der Angreifenden kümmern als um sich selbst.

No fiction! In meiner gesamten Karriere als Rechtsanwalt sind mir kaum derart gehäuft so viele Vorurteile, Widersprüche, Voreingenommenheiten oder gar vorsätzliche Missachtung von elementaren Rechten einer beschuldigten Person begegnet – die Unschuldsvermutung lässt grüssen – wie im Fall des seit Herbst 2013 laufenden Gerichtsfalls «Q».

Q wurde im Winter 2015, nach 2-jähriger Untersuchungshaft, in erster Instanz zu 10 Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Das Regionalgericht Biel verurteilte ihn wegen vorsätzlicher Tötung, wegen vorsätzlicher schwerer Körperverletzung, wegen Raufhandels und wegen Fahrens in fahrunfähigem Zustand und Drogenkonsums.

Nun steht am 8. November 2016 die Berufungsverhandlung vor der 2. Strafkammer des bernischen Obergerichts an und es gibt sich damit eine Chance auf Korrektur und Wiedergutmachung im Einzelfall und – noch wesentlicher – die Möglichkeit ein deutliches Zeichen dafür zu setzen, dass die Schwelle der vielbemühten Angemessenheit nicht allzu hoch gebaut wird.

Sex & Crime – was geschah?

Um zwei Uhr früh Mitte September 2013 sass der alleinstehende Beschuldigte Q (41), ein Handwerker, im Fumoir eines einschlägigen Etablissements im Raum Münchenbuchsee. Er hatte gefeiert und getrunken, war müde und wollte sich kurz erholen, bevor er sich auf den Weg nach Hause machen würde.

Daraus wurde nichts. Drei Männer, F (40), R (47) und H (37), von einem anderen Etablissement herkommend, betreten den Raum und greifen Q tätlich an. Die drei Ankömmlinge und Q kennen sich nicht. Q wird zu Boden geworfen, geschlagen und getreten. Kurz darauf intervenieren Frauen des Etablissements und weisen die Angreifer aus dem Haus. Diese verlassen das Haus, steigen in einen Volvo und fahren davon.
Sobald sie weg sind, verlässt auch Q das Etablissement, er bleibt vor dem Haus auf der Treppe stehen, um per Natel ein Taxi anzufordern.

In diesem Moment kehrt das Auto der Angreifer wieder zurück. Sie haben sich unterwegs gegenseitig aufgepeitscht und in Wut geredet. Sie wollen sich, wie sie und Zeugen es formulierten, Q «vorknöpfen» und «zur Rechenschaft» zu ziehen. Beim Angriff auf Q im Fumoir war das Halskettchen von R. gerissen. Q, der Angegriffene, sollte gezwungen, „genötigt“ werden, für den Schaden aufzukommen.

R und H stiegen aus dem Wagen, forderten von Q Geld (für das zerrissene Kettchen) und bedrängten ihn laut übereinstimmender Darstellung aller Zeugen so, dass dieser, buchstäblich mit dem Rücken zur Wand sich nicht entfernen und flüchten konnte.

Mehr Nötigung ist kaum möglich. R hatte Q am Kragen gepackt, schlug, stiess und schüttelte ihn. Q wehrte ab, so gut es ging und konnte immerhin sein Schweizer Sackmesser hervorklauben und öffnen. Der Angreifer R packte Q am Handgelenk „um das Messer zu blockieren“ wie er sagt. Q reisst seine Hand los. R wird leicht an der Schulter verletzt., was in diesem Moment weder R. noch Q. bemerken.

Der Streit im Dunkel der Nacht im schummrigen Aussenlicht des Etablissements lockt viele Zuschauer an. Einschreiten oder helfen tut keiner – viel zu gefährlich erscheinen die Angreifer.

H. versucht angesichts des Taschenmessers schliesslich R. wegzuziehen, Jetzt verlässt auch F das Auto und kommt mit erhobenen Fäusten auf Q zu. Es sind nur ein paar Meter. „ACHTUNG! Är het es Mässer“ warnt ihn H. Q hat tatsächlich das kleine Taschenmesser in der Hand – nach hinten gerichtet. Er hebt die Hand schützend vor sich. Nun schaut die Klinge nach vorn, F beachtet das Messer nicht, beachtet die die Warnung nicht, läuft dabei buchstäblich ins Messer und verletzt sich dabei schwer, wie man später im Spital feststellt.

F ging zu Boden. Erst jetzt war es Q möglich, den Aggressoren zu entkommen und zu fliehen. Nun allerdings nicht mehr mit dem Taxi. Er wollte den Angreifern so schnell es geht entkommen, setzte sich ins eigene Auto und fuhr nach Hause. Beim Wegfahren warf er das Taschenmesser weg. Er versuchte sofort, einen ihm bekannten Kantonspolizisten telefonisch zu erreichen, um den Vorfall zu melden, Hilfe zu holen und Anzeige gegen die Angreifer zu erstatten.

Was er nicht mehr sehen kann: Ein bis dahin unbeteiligter und mit keinem der Beteiligten befreundeter Zeuge, M (26), trat den am Boden liegenden verletzten F wuchtig gegen den Kopf.

Der Morgen danach

Q versuchte um 02:58 telefonisch den örtlichen Polizisten zu erreichen, was nicht gelingt. In der Früh meldete sich Q telefonisch in unserer Kanzlei, weil er dringend Beratung brauche. Als er eintrifft, ist er offensichtlich übermüdet und niedergeschlagen. Mitten in der Schilderung der Ereignisse meldete sich um 9:14 Uhr die Polizei auf Q’s Handy.

Die Polizei will das Ende der Besprechung und die Zuführung durch mich nicht abwarten. Filmreif preschen die zivilen Polizisten mit ihrem BMW SUV in verbotener Fahrtrichtung – ohne Blaulicht oder Horn – vor die Kanzlei. Ebenso filmreif wird Q verhaftet, wie es die täglichen US Serien vormachen. Die schnoddrig arrogante Antwort auf mein Ansinnen, gleich mitfahren und von Anfang an bei jeder Untersuchungshandlung dabei sein zu wollen, macht dem Serien-Vorbild alle Ehre. Die Untersuchungsbehörden halten sich nicht an die elementarste gesetzliche Vorschrift: Das Recht auf den Anwalt der ersten Stunde. Der Anwalt wird erst gar nicht über die erste Befragung orientiert.

Nun kann sich ja jedermann vorstellen, dass der Verhaftete völlig übermüdet, verängstigt, unter Einwirkung des nächtlich Erlebten, körperlich verletzt, unter grossem Druck und ohne die Anwesenheit seines Anwalts los plapperte, anscheinend auch unter Nachwirkung des erheblichen Alkoholkonsums. Das hätte ich verhindert, wäre ich da gewesen. Aber Anwälte stören eben.

Der Angreifer F. war noch in der Nacht ins Spital gebracht worden. Wie sich herausstellte, hatte er sich bei seinem Angriff so schwer verletzt, dass er während Q’s Vernehmung an der erlittenen Verletzung verstarb.

Der weitere Verlauf

Damit entstand aus der in Notwehr zugefügten Körperverletzung der Vorwurf der vorsätzlichen Tötung. Das Verfahren gegen den Angreifer H wurde anschliessend von der Staatsanwaltschaft eingestellt, die Privatklage des Q gegen H nicht behandelt bzw. in ein separates Verfahren abgetrennt. Darüber soll erst nach dem Prozess gegen Q entschieden werden.
Bleiben Q und der Angreifer R. Beide wurden des Raufhandels für schuldig befunden, Q zusätzlich der versuchten (!) schweren Körperverletzung. Der Angreifer R. soll deswegen von Q noch eine erhebliche Entschädigung erhalten.

Q wurde für schuldig befunden, der vorsätzlichen Tötung, der vorsätzlichen versuchten schweren Körperverletzung, des Raufhandels, des Drogenkonsums, des Fahrens in fahrunfähigem Zustand. Mit Ausnahme des Drogenkonsums alles Straftatbestände, die nur – wenn überhaupt erfüllt – entstehen konnten, weil sich Q vor den Angreifern (in Überzahl) schützen wollte.

Das Regionalgericht Biel verurteilte Q zu 10 (zehn) Jahren Freiheitsentzug, zu mehreren Zehntausend Franken Genugtuung an Angehörige des tödlich verletzten Angreifers F, zu den Kosten derer Anwälte und zu den Verfahrenskosten, insgesamt über 170‘000 Franken

Die Angreifer gingen weitestgehend straffrei aus, R erhielt eine symbolisch kleine Strafe wegen Raufhandels. H ging bis jetzt völlig straffrei aus.

Bleibt das Urteil so bestehen, heisst das in der Tat
Wer angegriffen wird, hat die Wahl zwischen Grab oder Gefängnis. Wer sich mit einem Sackmesser schützen will, nimmt in Kauf, dass der Angreifer verletzt wird. Dies wird mit jahrelangen Gefängnisstrafen geahndet. Es sei denn, der Angriff erfolgt wirklich und eindeutig mit einer Waffe und der Angriff muss klar erkennbar sein. Erst dann kann das Angriffsopfer mit gerichtlichem Verständnis rechnen.

Weit haben wir es gebracht. Das Angriffsopfer muss unter Androhung jahrelanger Gefängnisstrafen zu der Gesundheit und Integrität der Angreifenden Sorge tragen, die ihrerseits genau dies beim Opfer gefährden.

Jetzt verstehe ich auch den Rat einer Selbstverteidigungstrainerin an Ihre Kursteilnehmerinnen: Wendet alle Schläge und Tritte an, die ihr anbringen könnt, Nehmt das Risiko einer schweren Verletzung oder gar Tötung der Angreifenden in Kauf, rennt davon, so schnell ihr könnt und hütet Euch davor, noch erste Hilfe zu leisten oder gar die Polizei zu holen. Die Frau wusste, wovon sie sprach. Jetzt weiss ich es auch.

Nachfolgend fasse ich die Gründe zusammen, weshalb Q in Berufung gehen muss und – bis auf den Tatbestand des Fahrens in angetrunkenem Zustand und den Drogenkonsum – in allen Punkten einen Freispruch fordern muss.

Der Raufhandel:

R und Q wurden wegen Raufhandels verurteilt. Raufhandel setzt die Beteiligung von mindestens drei Akteuren und eine Körperverletzung voraus. R. und Q. waren zu zweit. Der Dritte fehlt, denn der ebenfalls beteiligte H. wurde gar nicht erst angeklagt. Bleibt M. der unabhängig von allem, den am Boden liegenden F. in den Kopf trat, als er beim Rückweg ins Etablissement an ihm vorbeiging. Ein Raufhandel kann objektiv nicht vorliegen, denn Q. hatte sich längst aus der Gefahrenzone entfernt. Es fehlt der dritte Mann.

Recht hat Unrecht nicht zu weichen

Mit anderen Worten darf derjenige, der angegriffen wird, sich gegen diesen Angriff zur Wehr setzen. Er darf sich also wehren. Er ist auch nicht verpflichtet zu fliehen, selbst wenn er könnte. Das Recht hat dem Unrecht nicht zu weichen. Der Angegriffene darf sich dem Angriff stellen. Und der Angreifer hat sich die Abwehrhandlung des Angegriffenen grundsätzlich gefallen zu lassen, selbst wenn er dabei sein Leben verliert.

Das Notwehrrecht ist eingeschränkt, wenn der Verteidigungshandlung das eigene Unrecht des Angegriffenen noch unmittelbar anhaftet. Die Anforderungen an die Vermeidung von Verletzungen des Angreifers sind umso höher, je schwerer die rechtswidrige und vorwerfbare Herbeiführung der Notwehrlage wiegt (anstatt vieler: BGE 104 IV 53 E. 2a). In dieser Konstellation verlangt das Gesetz, dass der Angegriffene sich zurückzieht, wenn er denn kann.
Das ist hier klar nicht der Fall. Q hat keinerlei Grund für den Angriff durch drei aufgepumpte Machos gesetzt.

Wer zieht schneller / Angemessenheit und Vermessenheit

Der Angegriffene darf sich wehren. Das Recht erlaubt ihm den Gebrauch aller Mittel, die geeignet sind, den Angriff auf das Rechtsgut abzuwenden. Die Abwehrhandlung muss aber angemessen sein.

Für die Frage, ob die Abwehr nun angemessen war, ist die konkrete Situation mit den tatsächlichen Umständen entscheidend. Es dürfen nicht nachträglich allzu subtile Überlegungen darüber angestellt werden, ob der Angegriffene sich nicht allenfalls auch mit anderen, weniger einschneidenden Massnahmen hätte begnügen können und sollen (s. BGE 136 IV 49 E. 3 mit Hinweisen). Allzu strenge Anforderungen an das richtige Mittel, die richtige Verwendung und die richtige Einschätzung der Lage dürfen nicht gestellt werden. Gerade deswegen ist die Beurteilung der Angemessenheit aus Sicht im Nachhinein heikel: Sie läuft Gefahr, selbst vermessen oder unangemessen zu sein.

Das Messen der Angemessenheit

Die Angemessenheit einer Abwehr bemisst sich insbesondere an der Schwere des Angriffs, die durch den Angriff und die Abwehr bedrohten Rechtsgüter, die Art des Abwehrmittels und dessen tatsächliche Verwendung. Die Abwehr in einer Notwehrsituation muss nach der Gesamtheit der Umstände als verhältnismässig erscheinen (BGE 136 IV 49 E. 3.2).

Das Notwehrrecht gibt nicht nur das Recht, mit gleichen Mitteln abzuwehren, mit denen der Angriff erfolgt, sondern auch mit solchen, die eine effektive Abwehr ermöglichen. Das bedeutet, dass der Verteidiger von Anfang an die voraussichtlich wirksamen Mittel einsetzen darf (BGE 107 IV 12 E. 3b; STRATENWERTH, a.a.O., § 10 Rz. 75).

Der absolute Gipfel: Besondere Zurückhaltung ist nach Auffassung der Gerichte bei der Verwendung von gefährlichen Werkzeugen zur Abwehr (Messer, Schusswaffen etc.) geboten, da deren Einsatz stets die Gefahr schwerer oder gar tödlicher Verletzungen mit sich bringt. Angemessen ist die Abwehr, wenn der Angriff nicht mit weniger gefährlichen und zumutbaren Mitteln hätte abgewendet werden können, der Täter womöglich gewarnt worden ist und der Abwehrende vor der Benutzung des gefährlichen Werkzeugs das Nötige zur Vermeidung einer übermässigen Schädigung vorgekehrt hat. Auch ist eine Abwägung der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter unerlässlich. Doch muss deren Ergebnis für den Angegriffenen, der erfahrungsgemäss rasch handeln muss, mühelos erkennbar sein (BGE 136 IV 49 E. 3.3 mit Hinweisen).

Es ist kaum zu fassen: Ich bin nicht gerade als schreckhaft bekannt, und ich suche die Konfrontation nicht. Meine Beweglichkeit und die rein physische Kraft hat indessen im Lauf der Jahre abgenommen. Sollte ich angegriffen werden und schlage ich mit der Hundeleine wie mit einem Morgenstern um mich, besteht die hohe Gefahr, dass ich für viele Jahre hinter Gittern komme, wenn der/die Angreifer dadurch schwer verletzt oder getötet wird/werden.
Ich glaube nicht, dass ich mir bei der Abwehr Gedanken über die Angemessenheit machen würde. Ich glaube vielmehr, dass ich alles versuchen würde, einigermassen unversehrt aus der Sache heraus zu kommen. Offenbar eine riskante Einstellung.

Angemessener Messereinsatz

In einem Fall wurde A. von X. und Y. zusammengeschlagen. A. nahm sein Taschenmesser zur Hand (7 cm Klinge) und stiess es dem X. in die Kniekehle. X. und Y. droschen weiter auf A. ein. Dieser stiess nach erfolgter Ankündigung dem X. das Messer in die Flanke. Nun liessen die Angreifer von A. ab. A wurde vom Obergericht Zürich wegen vorsätzlicher versuchter schwerer Körperverletzung schuldig gesprochen.

Begründung: Die Gefährdung der Unversehrtheit durch Tritte und Schläge berechtige den A nicht dazu, davon auszugehen, sein Leben sei in Gefahr. Die Notwehrsituation liege zwar vor, doch die Grenzen der zulässigen Abwehrhandlung seien bei Weitem überschritten. „Der massive Notwehrexzess sei auch nicht entschuldbar. Das Vorgehen mit dem Messer sei nicht als verzweifelter Befreiungsversuch zu verstehen, sondern als gezielter Gegenangriff.“

Das Bundesgericht sah es etwas anders: Der Angriff in Überzahl sei heftig wenn nicht brutal gewesen. Es entspräche durchaus der allgemeinen Lebenserfahrung, durch Schläge gegen den Kopf schwerwiegende Verletzungen davon zu tragen. Die Tatsache, dass der Angegriffene zuerst an eine weniger tödliche Stelle stach und den Angreifer über die Abwehrbereitschaft in Kenntnis setzte, genügte dem Bundesgericht zur Annahme der Angemessenheit. Die vorinstanzliche Auffassung der Angemessenheit sei zu eng gewesen (mit meinen Worten: Vermessen).
Das Bundesgericht sprach den Angegriffenen frei und wies die Vorinstanz an, ihn zu entschädigen (BGE 136 IV 49).

Unangemessen zum Ersten?

Im Fall des Q
Das Gericht sprach Q. der versuchten schweren Körperverletzung schuldig. Q. habe „klar unverhältnismässig“ gehandelt. Das Gericht verlangte m.a.W. also, dass Q. sich in Bruchteilen einer Sekunde unter folgenden Umständen „angemessen“ verhält.

  • Die Angreifer (in Überzahl) kommen extra zurück. Nach allgemeiner Lebenserfahrung nicht um zu feiern, sondern mit Verstärkung und/oder Bewaffnung. Was haben sie vor?
  • Wo ist der F.?
  • Haben Sie ein Messer oder eine Pistole dabei?
  • Muss ich Sie warnen, wenn ich das Messer benutze?
  • Darf ich das Messer überhaupt benutzen?
  • Wohin soll hinzielen?
  • Treffe ich nach 10 Bier und mehreren Whiskey-Colas überhaupt noch dorthin?

Kurz: Darf ich mich wehren und wenn ja, was ist angemessen? Antwort des Gerichts: Nein. Es spricht dem R. gar noch eine Genugtuung von 1’000 Franken zu. Und zwar für die körperliche Unbill die er erlitten hat, als er zusammen mit dem H. den Q. angriff.

Unangemessen zum Zweiten?

Der vorangegangene Sachverhalt geht noch weiter. F. steigt unerwartet aus dem Auto aus. R. und H. hatten zuvor versichert, dass der F. nicht mehr dabei sei.
Unbeeindruckt von der Warnung von H wegen des Messers geht F. gemäss Zeugenaussagen „voll auf den Q. los“. F. bleibt nach ein paar Sekunden liegen: Er erliegt 10 Stunden später seiner Verletzung. Wie sich herausstellte, hatte die Klinge des kleinen Taschenmessers die Augenhöhle getroffen. Das Gericht verurteilte Q wegen vorsätzlicher Tötung, Raufhandels und versuchter schwerer Körperverletzung zu 10 Jahren Freiheitsentzug

Ist der andere tot – bist du schuldig

Das Erfolgsstrafrecht feiert Urstände! Der Mann ist tot, ergo ist der andere schuldig. Es ist höchste Zeit, dieser Haltung den Riegel zu schieben.
Eine der grössten Errungenschaften unserer Rechtskultur ist die Strafe nach der Vorwerfbarkeit der angeblichen strafbaren Handlung. Es muss also vorweg eine rechtswidrige Handlung vorliegen und sie muss schuldhaft sein. Viele wurden in den letzten Wochen durch das Theaterstück bzw. den Film „Terror“ irregeführt. Ohne Zweifel ist der Abschuss einer Passagiermaschine in jedem Fall rechtswidrig. Hat der Pilot aber schuldhaft gehandelt? Dies war gar nicht Gegenstand des Films.
Die Frage der Schuld und damit die Frage der Gerechtigkeit ist die Frage der persönlichen Zumutbarkeit. War es also Q zumutbar das Risiko einzugehen, selbst schwer verletzt oder getötet zu werden? Gleiches gilt für die Selbstverteidigerinnen: Ist es zumutbar, dass sie mit wirksamer Abwehr zuwarten, bis sie sicher sind, dass ihre körperliche allenfalls sexuelle Integrität sicher verletzt werden wird?
Diese Zumutung ist realitätsfremd. Die Angegriffenen können nicht warten, denn sobald der Angriff mit Waffen oder auch nur durch schiere körperliche Überlegenheit einsetzt ist es zu spät. Dann ist die wirksame Abwehr eben ausgeschlossen.

Wenn sie nicht warten, drohen schwedische Gardinen, wenn sie warten droht Tod oder Verderben. Es gilt also: Grab oder Gefängnis.
Ich hoffe, die 2. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern setzt mit dem auf den 11. November 2016 angekündigten Urteil ein Zeichen zugunsten einer Gesellschaft, die nicht die Opfer drakonischen Strafen aussetzt.